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Als vor neun Monaten die COVID-19-Pandemie ausbrach, da wussten wir, dass wir unsere EU-Präsidentschaft noch einmal ganz neu würden ausrichten müssen. Im Kampf gegen das Coronavirus galt es, klare Prioritäten zu setzen. Wir haben uns deshalb entschieden, den Fokus auf unsere Nachbarschaft zu legen – auf den Osten, auf den Süden und insbesondere auf den Südosten. Denn die Krise hat uns vor Augen geführt, dass wir eine europäische Familie sind.

Wir messen dieser Konferenz daher große Bedeutung bei. Doch was sie zu einer wirklich zentralen Veranstaltung unserer Präsidentschaft macht, ist Ihre Teilnahme daran. Deshalb danke ich Ihnen allen sehr herzlich dafür – insbesondere meinen Kolleginnen und Kollegen der westlichen Balkanstaaten und den Mitgliedern der Europäischen Kommission. Ebenso herzlich danken möchten wir unseren Mitveranstaltern: der Südosteuropa-Gesellschaft und dem Aspen Institute Deutschland. Seien Sie alle herzlich willkommen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

einige von Ihnen wissen vielleicht, dass ich kürzlich zehn Tage in Quarantäne verbringen musste. Das war eine interessante Erfahrung. Statt der üblichen Routine aus Reisen, Beratungen und Konferenzen hatte ich plötzlich einmal Zeit für mich. Also habe ich angefangen, einige der Bücher zu lesen, die sich auf meinem Nachttisch stapeln. Eines davon war der Roman „Herkunft“ des bosnisch-deutschen Autors Saša Stanišić, der dafür letztes Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. „Herkunft“, so heißt es dort, „sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben.“ Jemanden wie mich, der im Saarland aufgewachsen ist, einer Region, deren Zugehörigkeit immer wieder zwischen Deutschland und Frankreich hin- und herwechselte, erinnert das eindrücklich daran, wie willkürlich Kategorien wie „Heimatland“ oder „Nationalität“ sein können. Besonders, wenn sie an den Geburtsort geknüpft werden. Das Buch zeigt auch, wie Migration unsere Sichtweisen verändern kann. Wie sie Menschen und Länder verbinden kann. Wie sie den eigenen Horizont erweitern und neue Möglichkeiten eröffnen kann – trotz aller Herausforderungen, die sie mit sich bringt.

Ich möchte deshalb gleich zu Beginn eine Sache betonen: Das Ziel dieser Konferenz besteht nicht darin, Migration ein Ende zu setzen. 30 Jahre nach dem Ende des Eisernen Vorhangs wissen wir, dass alle, die das versucht haben, gescheitert sind.

Mobilität ist Teil der DNA der Europäischen Union. Und sie bereitet junge Menschen auf ein Leben in einer globalisierten, vernetzten Welt vor. Gleichzeitig, meine Damen und Herren, können wir unsere Augen nicht vor den Problemen verschließen, die die kontinuierliche Abwanderung der besten Köpfe aus den Staaten des westlichen Balkans verursacht. Die Zahlen sind erschreckend. Laut Prognosen des Economist wird Bosnien und Herzegowina bis 2050 einen Bevölkerungsrückgang von mehr als einem Drittel im Vergleich zu 1990 erleben. Die Prognosen für Albanien und Serbien sehen ähnlich aus. Und eine Umfrage des Regionalen Kooperationsrats hat kürzlich ergeben, dass 71 Prozent der jungen Menschen in den Westbalkanstaaten erwägen, ins Ausland zu gehen. Höhere Einkommen, die außerhalb ihrer Heimatländer gezahlt werden, stellen dabei sicherlich einen großen Anreiz dar. Doch die Abwanderung aus den Staaten des westlichen Balkans hat nicht nur wirtschaftliche Ursachen, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung jüngst gezeigt hat. Viele junge Menschen wiesen darin auch auf Defizite in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales hin, auf den Mangel an leistungsorientierten Einstellungsverfahren und auf Korruption.

Minderheiten haben mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele junge Roma etwa leiden unter Diskriminierung. Als ich mich auf einer meiner Reisen in Skopje mit einer jungen Frau unterhielt, sagte sie mir: „Die Menschen hier tragen die Kämpfe der Vergangenheit aus, anstatt in die Zukunft zu blicken. Und die, die an die Zukunft glauben, gehen fort.“

Meine Damen und Herren,

das ist es, was wir ändern müssen. Drei Dinge möchte ich Ihnen daher heute vorschlagen.

Erstens: Wir müssen in die Zukunft investieren. Aufgrund der Pandemie planen immer mehr Unternehmen, ihre Produktion in geografisch nahe gelegene Länder zu verlagern. Die Westbalkanstaaten sind hierfür ideal geeignet. Vor drei Wochen hat die Europäische Kommission den neuen Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen der ökologische und digitale Wandel der Wirtschaft und die Förderung von Konnektivität. Die neun Milliarden Euro, die hierfür bereitgestellt werden, könnten zum Katalysator werden für den wirtschaftlichen Wandel in der Region. Doch die Grundlage für erfolgreiche Investitionen sind Reformen. Reformen, die allein Ihre Regierungen vornehmen können - indem Korruption und Bürokratie zurückgedrängt werden. Die jüngsten Länderberichte der Europäischen Kommission zeigen überdeutlich, wo Handlungsbedarf besteht. Oberste Priorität haben weiterhin die Themen Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung. Nicht nur, weil die Europäische Union sie einfordert, sondern auch, weil sie im Interesse Ihrer Bürgerinnen und Bürger und Ihrer Unternehmen liegen. Bei all dem stehen wir Ihnen zur Seite. Wir hoffen, dass die Staaten des westlichen Balkans auf dem diesjährigen Gipfeltreffen des Berliner Prozesses, das von Nordmazedonien und Bulgarien ausgerichtet wird, die nächste Phase des regionalen Wirtschaftsraums einläuten werden. Damit werden die vier Grundfreiheiten der Europäischen Union in die Region getragen und so das Wirtschaftswachstum angekurbelt. Doch das Rückgrat regionaler Zusammenarbeit sind gutnachbarschaftliche Beziehungen.

Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt. Lassen Sie uns endlich die Geister der Vergangenheit begraben. Sie versperren Ihren Ländern den Weg in die Zukunft. Das gilt insbesondere für Kosovo und Serbien. Eine Beilegung des Konflikts ist längst überfällig. Ich bin daher sehr dankbar, dass Miroslav Lajčák den von der EU vermittelten Dialog im Juli wieder aufgenommen hat. Und ich teile seine Auffassung, dass es keine Alternative zu einem umfassenden, nachhaltigen und verbindlichen Abkommen gibt. Ein solcher Schritt erfordert starke politische Führung. Ich zähle darauf, dass die politisch Verantwortlichen in Belgrad und Pristina dies unter Beweis stellen – indem sie konstruktiv zusammenarbeiten und so den Weg in eine neue Ära ebnen. Je schneller Sie damit beginnen, desto besser wird es für die Stabilität der gesamten Region sein. Und umso früher eröffnen sich Perspektiven für einen EU-Beitritt von Kosovo und Serbien. Dasselbe gilt für Bosnien und Herzegowina. Vor 25 Jahren wurde das Dayton-Friedensübereinkommen geschlossen. Doch bis zum heutigen Tage ist das Land politisch entlang ethnischer Grenzen gespalten. In einem Land, das der EU beitreten will, kann es schlicht keinen Platz geben für nationalistische Hetze, die Leugnung von Kriegsverbrechen oder die Glorifizierung von Kriegsverbrechern. Die kürzlich erfolgte Annahme der überarbeiteten Nationalen Strategie zur Verfolgung von Kriegsverbrechen war daher ein sehr wichtiger Schritt. Und es ist ermutigend, dass die Menschen in Mostar bald das erste Mal seit 12 Jahren an Kommunalwahlen teilnehmen können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das ist der Weg in die Zukunft. Der Weg, den wir gemeinsam mit Ihnen gehen wollen.

Mein dritter und letzter Punkt lautet daher: Es liegt in unserem gemeinsamen strategischen Interesse, dass Ihre Länder der Europäischen Union beitreten. Dort gehören sie hin. Dort sieht ein Großteil der jungen Menschen in Ihren Ländern die Zukunft. Und wenn die EU nicht zu ihnen kommt, dann kommen sie eben in die EU. Die Zahlen sprechen für sich. 2001, vor dem Beitritt zur EU, wollten 75 Prozent der jungen Rumänen ihr Land verlassen. Heute wollen zwei Drittel von ihnen bleiben. Wir hoffen, in den westlichen Balkanstaaten dieselbe Entwicklung beobachten zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir dieses Jahr wichtige Schritte unternommen, die die europäische Integration beschleunigen. Auf dem EU-Westbalkan-Gipfel von Zagreb im Mai haben beide Seiten ihr Bekenntnis zur Erweiterung und zu den dafür notwendigen Reformen bekräftigt. Wir haben die Tür für Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien geöffnet. Noch vor Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wollen wir eine erste Beitrittskonferenz mit Nordmazedonien abhalten. Und – wenn es die Umstände zulassen – auch mit Albanien.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zu Beginn meiner Rede habe ich eine junge Frau erwähnt, die ich in Skopje getroffen habe – die mir erzählt hatte, dass alle jungen Leute, die eine Zukunft wollen, das Land in Richtung EU verlassen.

Was wäre, wenn wir ihr zeigen könnten, dass diese Zukunft eine gemeinsame Zukunft ist? Dass unsere Schicksale miteinander verbunden sind, nicht einfach aufgrund geografischer Gegebenheiten, sondern aus freien Stücken. Dass wir wirklich gemeinsame Werte teilen. Und dass wir offene Gesellschaften fördern, in denen es allen Menschen gutgeht – unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit?

Ich glaube, wir könnten sie davon überzeugen, sich eine Zukunft in ihrem Heimatland aufzubauen.

In Nordmazedonien. Im westlichen Balkan. Im Herzen Europas.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Und noch einmal vielen Dank für Ihre Teilnahme!