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Herr Roth, nicht zuletzt aus ihrer Partei, der SPD, kommt starke Kritik an der Rechtsstaatsklausel, wie sie im großen Finanzkompromiss der EU-Staats- und Regierungschefs vereinbart worden ist. Die frühere Justizministerin Katarina Barley, die jetzt eine der Vizepräsidentinnen des EU-Parlaments ist, sprach von einem „schwammigen Wünsch-Dir-was“. Ist da zu wenig Substanz erreicht worden?

Mir ist die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Ländern ein Herzensanliegen; aber es war von vornherein klar, dass das eine der schwierigsten und schmerzhaftesten Auseinandersetzungen auf dem Europäischen Rat sein würde. Ich kann diejenigen verstehen, die sich mehr erhofft haben. Aber der vorhandene Beschluss der Staats- und Regierungschefs, auch wenn er kompliziert formuliert ist, ist die Grundlage für eine verbindliche Regelung. So weit waren wir noch nie.

Aber der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, den ein solches Rechtsstaatsverfahren treffen könnte, hat doch in Brüssel den Sieg für sich reklamiert?

Ich sehe das völlig anders als der ungarische Ministerpräsident. Europa ist doch kein Spiel, wo es um Sieger und Verlierer geht. Wir haben jetzt wichtige Weichen für unsere Werte- und Rechtsgemeinschaft gestellt. Erstmals haben sich die Staats- und Regierungschefs darauf geeinigt, dass die Auszahlung von Mitteln künftig an die Achtung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft ist. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung und eine Riesenchance für Europa. Nutzen wir sie!

Dazu muss doch erst eine entsprechende Verordnung formuliert und beschlossen werden. Und dazu braucht es auch Mehrheiten der Staats- und Regierungschefs und des Europaparlaments?

Zunächst bedarf es einer Verordnung als Rechtsgrundlage. Diese muss dann mit der Mehrheit des Europäischen Parlaments und mit der üblichen qualifizierten Mehrheit im Rat angenommen werden. Aus zahlreichen Gesprächen mit Europa-Abgeordneten weiß ich, dass für sie eine Zustimmung zum Corona-Finanzpaket und dem neuen EU-Haushalt nur in Verbindung mit einer Rechtsstaatskonditionalität vorstellbar ist. Es geht um ein wirkungsvolles und anwendbares Instrument! Grundsätzlich ist sich eine übergroße Mehrheit der Staats- und Regierungschefs und des Europäischen Parlaments einig: Rechtsstaatlichkeit ist der Wesenskern unserer Wertegemeinschaft. Daher muss es finanzielle Konsequenzen haben, wenn Mitgliedstaaten Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit begehen.

Müssten in einer solchen Verordnung nicht auch einzelne Tatbestände festgelegt werden, für die eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit angenommen wird?

Letztlich wird es immer um Einzelfallentscheidungen gehen, wenn wir ein solches Verletzungsverfahren einleiten. Wenn die EU-Kommission in einem Mitgliedstaat generelle Mängel der Rechtsstaatlichkeit feststellt, schlägt sie Maßnahmen wie zum Beispiel die Aussetzung von Zahlungen vor. Auf dieser Grundlage muss der Rat dann zu einem Beschluss kommen. Mit Blick auf mögliche „Tatbestände“, die Mängel bei der Rechtsstaatlichkeit, kann es beispielsweise um die Gefährdung der Unabhängigkeit der Gerichte gehen.

Wie lange wird es dauern, bis eine solche Verordnung wirksam ist und angewendet werden könnte?

Es gibt bereits einen Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, der seit 2018 auf dem Tisch liegt. Dieser bleibt die Grundlage für die weiteren Verhandlungen. Und es gibt jetzt eine sehr klare Erwartungshaltung seitens der Konservativen, der Sozialdemokraten, der Liberalen und Grünen im Europäischen Parlament: Sie fordern für den künftigen mehrjährigen EU-Finanzrahmen eine Regelung zur Rechtsstaatskonditionalität ein. Ohne sie wird es wohl keine Zustimmung zum EU-Haushalt geben. Daher müssen wir jetzt sehr rasch zu einer positiven Entscheidung kommen. Wir dürfen das nicht auf die lange Bank schieben, es geht um die Glaubwürdigkeit der EU! Wir können doch nur dann selbstbewusst unsere Werte nach Außen vertreten, wenn wir im Innern keinen Zweifel an deren strikter Einhaltung lassen.

Interview: Johannes Leithäuser / faz.net