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Am 1. Januar übernimmt Portugal die EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland. Damit nimmt das Land eine zentrale Funktion innerhalb der Europäischen Union ein. Was erhoffen Sie sich von der portugiesischen Ratspräsidentschaft? Wo sehen Sie die wichtigsten Schwerpunkte und Herausforderungen?

Augusto Santos Silva: Gestatten Sie mir, diese Frage mit den Themen zu beantworten, die es in die Schlagzeilen gebracht haben sollten, wenn Slowenien in sechs Monaten die EU-Ratspräsidentschaft von Portugal übernimmt. Ich wünsche mir, dass Portugal Fortschritte erzielt bei der Umsetzung aller Programme und Rechtsvorschriften, auf die man sich im kürzlich verabschiedeten Mehrjährigen Finanzrahmen geeinigt hat. Ich würde gerne lesen, dass die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sich als voll funktionsfähig erweisen, dass die europäische Impfkampagne vorangeschritten ist und dass das Europäische Klimagesetz, mit dem die Einhaltung der freiwillig vereinbarten Klimaziele rechtsverbindlich festgeschrieben wird, verabschiedet wurde. Ich wünsche mir, dass es zu einer umfassenden Diskussion der Digitalen Agenda kommt und Ergebnisse erzielt werden. Ich hoffe, dass dem Sozialgipfel in Porto großer Erfolg in dem Sinne beschieden sein wird, dass er den erforderlichen politischen Anstoß zur Verwirklichung der Europäischen Säule Sozialer Rechte in all ihren Dimensionen und Möglichkeiten zu geben vermag. Ich hoffe, dass eine neue Ära der transatlantischen Beziehungen eingeleitet werden konnte, dass der Indien-EU-Gipfel erfolgreich verläuft und dass ein Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über ihre künftigen Beziehungen im beiderseitigen Interesse zustande gekommen ist.

Unsere EU-Präsidentschaft steht unter dem Motto „Zeit zu handeln: Für einen fairen, grünen und digitalen Aufschwung“ und bringt damit auf den Punkt, was Europa gerade jetzt benötigt. Es ist an der Zeit zu handeln, konkret zu werden und zu Ergebnissen zu kommen. In den vergangenen Monaten haben wir – in Reaktion auf die Pandemie und die aus ihr resultierende Krise in allen Ländern – einige wirklich beeindruckende wegweisende Entscheidungen getroffen. Jetzt muss es darum gehen zu handeln, diese Entscheidungen umzusetzen und sicherzustellen, dass sie spürbare Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben, auf die Existenzsicherung, den Zugang zum Arbeitsmarkt und die Beschäftigungschancen, sodass alle wirtschaftlich und persönlich vorankommen können.

Auch die portugiesische Ratspräsidentschaft wird voraussichtlich von digitalen Konferenzen und virtuellen Treffen geprägt sein. Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Santos Silva: Wir arbeiten an allen Szenarien, um die Kontinuität der Arbeit in allen von der rotierenden Präsidentschaft betroffenen Bereichen der EU sicherzustellen. Dazu gehören physische, virtuelle und hybride Formate. Da gibt es im Vorfeld allerhand zu tun, aber glücklicherweise können wir auf den Erfahrungen der deutschen und der kroatischen Ratspräsidentschaft aufbauen. In technischer Hinsicht sind wir daher schon gut aufgestellt, um diese Herausforderung zu bewältigen. Aber natürlich hoffen wir, dass wir mit fortschreitender Pandemiebekämpfung durch die europäische Impfkampagne auch bald wieder persönlich zusammentreffen können. Wir sind sehr zuversichtlich, dass mit der Impfung auch die Chance auf Rückkehr zu einer gewissen Normalität verbunden ist.

Portugal ist der EU – damals noch den Europäischen Gemeinschaften – 1986 beigetreten. Wie sehr hat die Zugehörigkeit zur EU Portugal verändert und geprägt? Wie ist derzeit die Europa-Stimmung in Ihrem Land?

Santos Silva: Die Portugiesen und Portugiesinnen sind ausgesprochen proeuropäisch eingestellt. Ihre Unterstützung für die europäische Idee ist im Laufe der Zeit noch stärker geworden, und nicht einmal während der Wirtschaftskrise hat sich die Einstellung zur EU zum Negativen gewendet. Die große Mehrheit der Portugiesen empfindet wie selbstverständlich ein kollektives Zugehörigkeitsgefühl zur Europäischen Union. Das liegt sicherlich auch an der beachtlichen Entwicklung, die das Land in Hinblick auf Modernisierung und Wohlstand seit seinem Beitritt zur damals noch EWG durchlaufen hat.

2007/2008 bildeten Deutschland, Portugal und Slowenien gemeinsam die erste Triopräsidentschaft überhaupt in der Europäischen Union. Nun ist dieses Trio seit Mitte 2020 ein weiteres Mal gemeinsam gestartet. Was hat sich verändert? Wo sehen Sie die Chancen dieser Zusammenarbeit als Trio?

Santos Silva: Ja, Deutschland, Portugal und Slowenien bildeten 2007 das erste Trio der EU-Geschichte, das war eine, wie ich finde, ausgesprochen gelungene Konstellation. Unseren drei Ländern fällt Kooperation, Partnerschaft und Teamwork untereinander sehr leicht und die Prioritäten des jeweils einen Landes passen gut zu denen der beiden anderen – und ebenso zur EU-Agenda und den europäischen Zielen. Daraus hat sich wie von alleine ein stimmiges EU-Programm für die Triopräsidentschaft ergeben. Unsere Länder teilen dieselben Interessen und Werte und haben einen ähnlichen Blick auf das europäische Projekt. Das war schon 2007 so und ist 2020/2021 nicht anders.

Ein ganz besonderes Highlight am Ende Ihrer Präsidentschaft wird die UEFA EURO 2020 sein. Nach der Verschiebung aufgrund der Corona-Krise soll die Fußball-Europameisterschaft am 11. Juni 2021 beginnen. Das Turnier wird erstmals an unterschiedlichsten Orten in ganz Europa ausgetragen. Kann der Fußball und der Sport insgesamt ein Treiber für die Europäische Idee sein? Und vor allem: Deutschland und Portugal spielen schon in der Vorrunde gegeneinander. Was tippen Sie, wie geht das Spiel aus?

Santos Silva: Es gibt ja bekanntlich nicht vieles, was einen so starken Gemeinschaftssinn hervorzubringen vermag wie der Sport. Und dass die Europäer kaum einen Sport so lieben wie den Fußball, dürfte auch kein Geheimnis sein. Daher gehe ich fest davon aus, dass die EURO, die ja zum ersten Mal an verschiedenen Orten auf unserem Kontinent ausgetragen wird, das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl wieder aufleben lässt und stärken wird. So sehr ich auch sonst die gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Portugal schätze – für die Vorrunde gilt das nicht. Ich gestehe, da drücke ich Portugal ganz fest die Daumen, dass wir unsere deutschen Freunde diesmal besiegen. Bei allem Respekt vor der Kraft und dem Können der „Mannschaft“ – die portugiesische Nationalmannschaft, die „Seleção“, wird ganz sicher ein sehr gutes Spiel machen.

Wir hoffen alle, nächstes Jahr wieder reisen zu können. Was sollten wir in Portugal unbedingt gesehen haben?

Santos Silva: Ein Besuch in Porto gehört unbedingt dazu, würde ich sagen, aber ich bin dort geboren und insofern parteiisch. Portugal, das ja geografisch betrachtet kein großes Land ist, hat insgesamt eine große Vielfalt an Landschaft, an Schönem, an Kultur und Kunst zu bieten, und überall im Land gibt es viel Sehenswertes. Jede Region und jede Stadt hat ihre ganz besonderen Vorzüge. Ausgesprochen attraktiv und als Reiseziele sehr beliebt sind auch die autonomen Regionen Azoren und Madeira. Bei den World Travel Awards wurde Portugal drei Mal in Folge als „Weltbestes Reiseziel“ ausgezeichnet. Man muss zugeben, das ist eine beachtliche Leistung für ein kleines Land wie Portugal, das noch dazu in diesem Jahrhundert besonders hart von der Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen wurde.