Hauptinhalt
Frau Bock-Chambon, wie sind Sie zum Dolmetschen gekommen?
Ich habe schon früh gemerkt, dass meine Berufung und mein Talent in erster Linie Sprachen und Kommunikation gelten. Nach dem Abitur bin ich deshalb für ein Jahr in die USA gegangen. Dort habe ich studiert und angefangen, Portugiesisch zu lernen. Mein Dolmetsch-Studium hat mich dann nach Heidelberg und Paris geführt. In dieser Zeit habe ich mit einem zweijährigen Aufenthalt in São Paulo auch meinen Traum verwirklicht, einmal in Brasilien zu leben. Nach meinem Studium 1991 fing ich dann an, als Dolmetscherin für die EU-Kommission zu arbeiten.
Sie stammen ursprünglich aus dem oberschwäbischen Biberach an der Riß. Was hat Sie zur EU-Kommission nach Brüssel geführt?
Ich war schon immer begeistert von der Idee, für eine europäische Institution zu arbeiten. Meine Eltern waren beide Geschichtslehrer. Deshalb habe ich immer an Aussöhnung und Europa als Friedensprojekt geglaubt. Mit meiner Arbeit möchte ich Europa für alle Menschen erlebbar machen - unabhängig von der eigenen Muttersprache. Ich denke, wir Dolmetscher können zum besseren Verständnis zwischen den verschiedenen Ländern und Kulturen beitragen und die Mehrsprachigkeit in Europa fördern.
Wie kann man sich Ihre Arbeit für die EU-Kommission vorstellen?
Mein Arbeitstag beginnt eigentlich schon am Abend zuvor um 18:30 Uhr. Dann wird nämlich unser endgültiges Programm für den folgenden Tag eingestellt. Daraufhin bereite ich mich auf das Thema und die Inhalte der Sitzung vor. Am nächsten Tag begebe ich mich dann in die Kabine und dolmetsche dort entlang der Tagesordnung. Dolmetscher sind Generalisten, keine Spezialisten. Wir beschäftigen uns an jedem Sitzungstag mit einem anderen Fachbereich: von Landwirtschaft, über Steuern bis hin zur Raumfahrt. Das Thema meiner letzten Sitzung war zum Beispiel der Mehrjährige Finanzrahmen.
Gleichzeitig zuhören und übersetzen - das klingt nach einer großen Herausforderung. Wie schaffen Sie das?
Wir müssen gleichzeitig einem Redner zuhören, das Gesagte verstehen und inhaltsgetreu wiedergeben - und zwar alles innerhalb von Sekundenbruchteilen. Klar, dass einem dabei manchmal etwas entgeht oder man womöglich etwas nicht ganz richtig versteht. Aber Dolmetschen ist eben auch Teamarbeit. Und da wir meistens zu zweit oder zu dritt in der Kabine sitzen, unterstützen wir uns gegenseitig. Indem wir für den Kollegen zum Beispiel Vokabular, Zahlen oder Abkürzungen aufschreiben.
Am 1. Juli hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Vor welchen Herausforderungen stellt die Corona-Pandemie die Verdolmetschung der Ratstreffen?
In den ersten Wochen und Monaten der deutschen Präsidentschaft werden sicherlich viele Sitzungen noch virtuell stattfinden. Ich habe den Eindruck, durch die Erfahrungen aus den Videokonferenzen in den letzten Wochen wurde deutlich, dass diese Verhandlungen nicht die gleichen Bedingungen bieten wie Präsenzsitzungen. Dort begegnet man sich persönlich und kann sich auch am Rande des Sitzungsgeschehens austauschen und Standpunkte annähern.
Wie lösen Sie dieses Problem?
Wir sind gerade dabei, eine Internet-Plattform zur Simultanverdolmetschung bei virtuellen Konferenzen zu optimieren. Die Plattform basiert auf einer sogenannten RSI-Lösung (Remote Simumaltaneous Interpretation). Dabei arbeiten die Dolmetscher im Allgemeinen von einem Sitzungssaal in Brüssel aus. Die Konferenzteilnehmer können die Verdolmetschung in ihrer jeweiligen Muttersprache verfolgen und sich auch in ihrer Muttersprache selbst äußern. Das ist natürlich auch eine technische Herausforderung: Wenn die Internetverbindung oder das Mikrofon des zugeschalteten Teilnehmers an einer Sitzung ungenügend sind, können wir nur schwer vernünftig dolmetschen. Die Plattform wurde bereits beim ersten Ratstreffen der Justiz- und Innenminister Anfang Juli eingesetzt.
Hat Ihre Arbeit Ihren Blick auf Europa verändert?
Dank der vielen Sprachen, die ich spreche, sehe ich Europa mit anderen Augen. Meine letzte gelernte Sprache ist Griechisch. Seitdem habe ich viel Kontakt zu Griechen und habe viele griechische Sendungen gesehen. Dadurch lernte ich beispielsweise die Finanz- und Wirtschaftskrise sozusagen auch mit griechischen Augen zu verstehen. Wir Dolmetscher sind nicht wirklich dazu in der Lage in das politische Geschehen Europas einzugreifen, aber allein es besser verstehen zu können, finde ich, ist ein großer Mehrwert. Letztendlich gibt es ja nicht die eine Wahrheit, sondern immer mehrere Wahrheiten.