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Demokratie ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Wertekanons der Europäischen Union, Voraussetzung für die Legitimität europäischer Politik und für ihre Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern. Zugleich ist die Ausgestaltung des europäischen demokratischen Prozesses Gegenstand lebhafter Debatten. Denn je mehr und je direkter die Bürgerinnen und Bürger der EU an den Entscheidungen der Union beteiligt sind, umso mächtiger wird diese im Verhältnis zu den Nationalstaaten. Wie soll die Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten vor diesem Hintergrund aussehen? Wie viel Handlungsmöglichkeiten müssen, wollen und dürfen die Mitgliedstaaten abgeben und wie soll nationale Souveränität in der EU der Zukunft ausgestaltet sein? Wie können die Entscheidungen und Verfahren der europäischen Institutionen transparenter gestaltet und noch besser demokratisch legitimiert werden?

Auf dem Weg zu mehr Teilhabe…

Seit Beginn der europäischen Integration wurden die EU und ihre Vorläufer für mangelhafte direkte demokratische Legitimation kritisiert. In der Tat war die damalige Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zunächst von indirekter demokratischer Legitimation geprägt. Im so genannten Exekutivföderalismus ergab sich die Legitimität des politischen Handelns aus der Legitimation der demokratisch gewählten nationalen europäischen Regierungen. Nicht nur die Vertreter im Ministerrat wurden von den Regierungen entsandt, auch die Mitglieder des Vorgängers des heutigen Europäischen Parlaments, der Parlamentarischen Versammlung der EGKS, wurden in den ersten Jahren von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten gewählt.

Das änderte sich erst 1979, als die Bürgerinnen und Bürger der EG zum ersten Mal aufgerufen waren, die Abgeordneten zum Europäischen Parlament (dessen Bezeichnung als solches erst 1986 von den Mitgliedsstaaten anerkannt wurde) direkt zu bestimmen. Seitdem haben sich die Befugnisse des Parlaments langsam, aber sicher ausgedehnt, oft auf Initiative der Parlamentarier selbst. Politisch hatte das Hohe Haus indes lange Zeit nur das Recht, Änderungsvorschläge für Gesetzesvorhaben zu unterbreiten – ohne dass diese für den Ministerrat bindend gewesen wären. Das änderte sich 1992 mit dem Vertrag von Maastricht, mit dem das so genannte Mitentscheidungsverfahren und die Möglichkeit von Untersuchungsausschüssen eingeführt wurden.

So wichtig die Reformen von Maastricht waren, so offensichtlich stand Anfang der 1990er Jahre nach wie vor die Frage im Raum, wie die EU insgesamt bürgernäher, transparenter und demokratischer gestaltet werden könnte. In intensiven Verhandlungen wurden mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1999 und mit dem Vertrag von Nizza im Jahr 2003 deutliche Fortschritte wie etwa eine Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens auf fast alle Politikbereiche erzielt. Trotzdem brauchte das Projekt EU weitere Reformen – kein einfaches Unterfangen: Eine Verfassung für Europa hatte in mehreren nationalen Referenden keine Zustimmung erhalten, der Prozess der weiteren Einigung Europas schien ins Stocken zu kommen. Auf der anderen Seite war der innere Druck groß. Die Union war in der Zwischenzeit deutlich gewachsen, und mit ihr die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger. Auch die lauter werdenden kritischen Stimmen, die die EU als „Eurokratie“ ohne demokratische Legitimation darstellten, mussten berücksichtigt werden.

…brauchte es mehr als einen Anlauf

Der nach Amsterdam und Nizza dritte Anlauf zu einer grundlegenden Reform der EU brachte schließlich den Durchbruch. Am 13. Dezember 2007 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU den Vertrag von Lissabon, mit dem weitreichende Änderungen für das gesamte Gefüge der Union beschlossen wurden. Die Präambel macht deutlich, um was es geht: Der Vertrag werde geschlossen in dem Wunsch, „den mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Vertrag von Nizza eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres Handelns verbessert werden sollen, abzuschließen“.

Um das erklärte Ziel der Erhöhung demokratischer Legitimität zu erreichen, wurden die Zuständigkeiten des EU-Parlaments – mit Ausnahme der Außen- und Sicherheitspolitik – ausgeweitet und auf eine Stufe mit dem Rat der Europäischen Union gestellt. Zudem erhielt das Parlament das letzte Wort über die Ausgabenseite des EU-Haushalts. Von großer Bedeutung war auch die Stärkung der nationalen Parlamente, die seither Gesetzgebungsverfahren der EU zurückweisen können, wenn sie den Grundsatz der Subsidiarität verletzt sehen. Weitere Maßnahmen, die mit dem Vertrag von Lissabon realisiert wurden, betreffen die Entscheidungsfindung im Rat der Europäischen Union, die seit 2014 mit doppelter Mehrheit erfolgen muss. Demnach bedarf die Annahme einer Entscheidung einer Mehrheit der Staaten (55 Prozent), die gleichzeitig eine Mehrheit der Bevölkerung von 65 Prozent repräsentieren müssen.

Sogar ein plebiszitäres Element wurde mit Lissabon eingeführt: Mit der Europäischen Bürgerinitiative kann die EU-Kommission gezwungen werden, sich mit einem Thema zu beschäftigen und einen Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Voraussetzung ist, dass dieses Begehren von mindestens einer Million Menschen aus verschiedenen Mitgliedstaaten unterschrieben wurde.

Wie geht es weiter? Wo geht es hin?

Ein Blick zurück verdeutlicht den weiten Weg, den die EU in Sachen Transparenz und demokratischer Legitimität in den letzten drei Jahrzehnten bereits zurückgelegt hat. Die demokratische Legitimität ist durch die Stärkung des Europäischen Parlaments deutlich erhöht worden; die neue Transparenz der Institutionen zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass die Sitzungen der Ministerräte teilweise öffentlich durchgeführt werden. Der Prozess der europäischen Einigung ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen - nicht nur mit Blick auf demokratische Legitimität. Im Kern der europaweiten Diskussionen steht die Frage: Wo steuert die Europäische Union langfristig hin?

Die Debatte um die „ever closer Union“, um die immer enger werdende Verbindung der Mitgliedstaaten, greift dabei nur einen Aspekt unter vielen auf. Angesichts rasanter globaler Veränderungen und epochaler Herausforderungen wie der Bewältigung des Klimawandels und der Folgen der COVID-19-Pandemie werden europäische Antworten etwa im Bereich der Ökonomie oder des Umgangs mit neuen Technologien dringend benötigt.

Hier setzt die „Konferenz zur Zukunft Europas“ an. Dabei handelt es sich um einen Vorschlag von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ziel des Vorhabens ist es, Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedstaaten der EU aktiv an der Diskussion über die gemeinsame Zukunft Europas zu beteiligen. Sie sollen ihre Vorstellungen darüber einbringen können, wie die EU in fünf oder zehn Jahren aussehen soll. Dabei kann es zum Beispiel um die Zukunft des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Innovation und Digitalisierung oder die Grundwerte der EU gehen. Auch die Frage, welche Lehren Europa aus der COVID-19-Pandemie zieht, kann thematisiert werden.

Die „Konferenz zur Zukunft Europas“ soll von den Institutionen der Union (Rat, Parlament und Kommission) gemeinsam mit den Mitgliedstaaten getragen und in der gesamten EU ausgerichtet werden. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft setzt sich dafür ein, dass die „Konferenz zur Zukunft Europas“ so schnell wie möglich ihre Arbeit aufnehmen kann, in der Form, wie es die COVID-19-Pandemie zulässt.

Weitere EU-weite Vorhaben wie etwa der „European Democracy Action Plan“ der EU-Kommission sollen dazu beitragen, nicht nur die Bedingungen für eine lebendige Demokratie auf europäischer Ebene weiter zu verbessern, sondern auch konkrete Maßnahmen zum Umgang mit aktuellen Herausforderungen für demokratische Teilhabe wie z. B. Desinformation im Internet zu ergreifen.