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Willkommen im grünen Berlin

Mittwoch morgen, Berlin Gleisdreieck. Jogger und Hundebesitzer drehen ihre Runden, Menschen radeln zur Arbeit, in der Half Pipe auf dem Skateplatz ist es noch ruhig. Der Blick von der U-Bahn-Trasse reicht bis zu den Hochhäusern am Potsdamer Platz im Zentrum der Stadt. Der Gleisdreieck-Park gehört zu den neuen Parks, die mit innovativen Konzepten experimentieren. Naturareale und gummierte Spielflächen, Sitzterrassen, Wäldchen, kleine Seen. Mal umwuchern sie wild alte Gleisbette wie im Schöneberger Südgelände, mal reichen sie über weitläufige Flächen wie das Tempelhofer Feld auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, mit mehr als 300 Hektar eine der größten innerstädtischen Freiflächen der Welt. Wo nach dem 2. Weltkrieg die US-Rosinenbomber mit ihren Nahrungslieferungen das Überleben der Stadt sicherten, treffen sich heute Menschen zum Gärtnern, Grillen oder Windskaten. Berlin ist eine der grünsten Städte Europas. Seine Straßen sind von 440.000 Bäumen gesäumt, 2500 öffentliche Parkanlagen gibt es in der Stadt.

Die EU-Umweltministerinnen und -minister zu Gast

Gleich neben dem Gleisdreieck liegt die „Station“, im 19. Jahrhundert war der alte Postbahnhof eine der wichtigsten Drehscheiben für Güter und Pakete in Deutschland. Mittlerweile ist er Raum für zeitgenössische Kunst, Modemessen und den größten Internetkongress Europas, die Re:publica. Heute lädt Bundesumweltministerin Svenja Schulze zur informellen Tagung der EU-Umweltministerinnen und -minister zur Zukunft der europäischen Umweltpolitik ein. Der rostrote Backsteinbau leuchtet in der Morgensonne, quietschend rumpelt die U-Bahn vorbei. Statt rotem Teppich, ist brauner Sisal ausgerollt, Stehtische aus recycelten Europaletten laden zum Kaffeestopp. Blumenkästen mit Schildern in den Farben der Teilnehmerstaaten säumen den Weg, wie Blüten wippen sie auf langen Stangen. Schwarze Limosinen fahren durch die Einfahrt, vorbei an einer Gruppe von Greenpeace-Aktivisten, die ein gelbes Schild in die Luft halten: „1,5 °C is the limit“.

Für ein klimaneutrales Europa und den Schutz biologischer Vielfalt

Bundesumweltministerin Svenja Schulze weiß, wie hoch die Erwartungen sind. Sie möchte etwas bewegen, Europa zusammenbringen für die Klimapolitik. „Wir haben alle ein Ziel vor Augen“, sagt sie beim Doorstep, dem Eingangsstatement der Tagung. „Europa soll bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent sein.“ Noch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft will Schulze eine Einigung für ein höheres Klimaziel bis 2030 erreichen. Auf der Agenda stehen bei der informellen Tagung zwei zentrale Themen: Erstens, mit welchen Maßnahmen kann Europa diesem Ziel näherkommen? Zweitens, wie kann die EU die biologische Vielfalt besser schützen, auch um das Risiko für weitere Pandemien wie die Covid-19-Krise zu verringern? Denn das weltweite Verschwinden wertvoller Arten und Naturräume ist dramatisch. Auch in der Station ist Covid-19 Thema. Eine Teilnahme ist nur mit negativem Test erlaubt, Abstand und Masken sind Pflicht. Auch weil die Decken hoch, die Flächen gewaltig sind, fiel die Wahl auf den Veranstaltungsort in der Hauptstadt. Zudem bietet Berlin mit seinen vielen grünen Initiativen, Innovationen und Startups einen optimalen Rahmen für Debatten über Umweltpolitik.

© Original Unverpackt, Ecosia, Sirplus, Repair-Café Kunst-Stoffe
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Wo die grünen Startups blühen

Berlin gleicht einem Wimmelbild kreativer Initiativen, junger Companys und Sozialunternehmen. Viele von ihnen eint ein Ziel: Die Stadt und die Welt ökologischer zu machen. 2009 zum Beispiel erfand Christian Kroll die Suchmaschine Ecosia, eine nachhaltige Alternative zu Google. Die Einnahmen durch die Suchanfragen investiert Ecosia in Aufforstungsprojekte vor allem in Afrika, Asien und Südamerika. 100 Millionen Bäume haben Ecosia-User so bisher finanziert. Bei Original Unverpackt in Kreuzberg klackern Nudel, Nüsse und Reis aus Kunststoffspendern direkt in die Beutel und Dosen der Kunden. Der Shop ist einer von vielen Läden in Berlin, die Lebensmittel ohne Verpackung anbieten. Ziel: Zero Waste. Sirplus bietet seit 2017 Lebensmittel an, die kurz vor Ablauf der Mindesthaltbarkeit stehen. „Rettermärkte“ nennen die Gründer deshalb das Konzept, mit dem sie an sechs Standorten der Lebensmittelverschwendung den Kampf ansagen. 18 Millionen Tonnen wandern allein in Deutschland jedes Jahr in den Müll, 2500 Tonnen hat Sirplus seit 2017 gerettet. Und wer nicht nur Essen, sondern auch alte Uhren, Staubsauger und Fahrräder vor dem Müll bewahren will, findet Rat in den bald zwanzig Repair-Cafes der Stadt.

Urban Farming: Wenn Fische Pflanzen düngen

Auf dem Areal der alten Malzfabrik in Berlin Schöneberg liegt eine der größten innerstädtischen Fisch-Gemüse-Farmen Europas: die ECF, Eco Friendly Farm Berlin. Mitgründer Christian Echternacht steht entspannt zwischen Basilikum und Fischbecken und erzählt. Von den Ursprüngen einer Idee von drei Jungs, die gutes Essen lieben, die Natur und das Unternehmertum. Die sich fragten: Warum nutzen wir nicht ein Kreislaufsystem, um Fischzucht und Gemüseanbau ressourcenschonend zu kombinieren? Die mit einem kleinen Gewächshaus und Fischbottichen experimentierten und sich innerhalb von fünf Jahren zu einem modernen Aquaponikunternehmen entwickelten mit Niederlassungen in Brüssel und in der Schweiz.

Links neben dem Gewächshaus stehen die Fischtanks mit Hunderten Buntbarschen, gefüllt mit Regenwasser vom Dach. Die Ausscheidungen der Fische reichern das Wasser mit den wichtigsten Nährstoffen an, die das Basilikum in der Halle nebenan zum Gedeihen braucht. Das Wasser wird von festen Sedimenten gereinigt, biologisch gefiltert, über Bodentanks zum Basilikum im Gewächshaus gepumpt, um die Pflanzen dort zu bewässern und düngen. Inzwischen arbeitet ECF mit mehreren Kreislaufsystemen und spart so auch CO2. 12.000 Barsche liefert die Farm pro Jahr, sie deckt einen Großteil des Basilikumbedarfs für Berlin. Und es geht noch ökologischer: „Seit 2018 verzichten wir auf die Transportpaletten aus Kunststoff und packen das Basilikum nur noch in Papier“, sagt Echternacht, „das spart 11 Tonnen Plastik im Jahr.“

Berliner Universitäten: Mit künstlicher Intelligenz zur grünen Mobilität

Gut 3,5 Millionen Einwohner hat Berlin laut Mobilitätsbericht der Stadt von 2017, mehr als achtzig Minuten sind die Menschen jeden Tag unterwegs. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Restaurants und Theatern, zu Freunden und Familie. Knapp zwanzig Kilometer legen sie im Durchschnitt dabei zurück. Wie lässt sich diese Mobilität möglichst nachhaltig organisieren? Mit weniger Stau, Abgasen, Lärm? Philipp Staab, Soziologe an der Berliner Humboldt Universität, hat eine Antwort. „Wir müssen Alternativen zum Auto attraktiver machen – mithilfe von Künstlicher Intelligenz.“ Schon länger gibt es digitale Plattformen privater Anbieter für Handy und Tablett, die Nutzern zeigen, wie sie Fahrrad, Scooter, Bus, Bahn und Ride-Sharing effizient verknüpfen können, um in der Stadt von A nach B zu kommen. „Mobility as a Service“ nennt sich das. „Doch für die Anbieter ist das wichtigste Kriterium meist: möglichst schnell und billig“, sagt Staab. Ökologie spiele dabei meist keine Rolle. Daher fordert Staab: „Wir dürfen Mobilitätscouting nicht den Privaten überlassen.“

Gemeinsam mit Kollegen von der Technischen Universität und den Programmierern von SAP hat Staab ein Konzept für Algorithmen entwickelt, um die Mobility-App Jebli der Berliner Verkehrsbetriebe ökologischer zu machen: Aisum (für: AI Empowered for Sustainable Urban Mobility). Die Künstliche Intelligenz berechnet die Ökobilanz verschiedener Mobilitätsoptionen in Echtzeit, erstellt personalisierte Mobilitätsrouten und analysiert den Bedarf in Stadtvierteln. Das Konzept zu Aisum liegt vor, jetzt geht es an die Umsetzung. Das Projekt ist Teil des Programms „KI Leuchttürme für Umwelt, Klima, Natur und Ressourcen“ des Bundesumweltministeriums (BMU). Das Thema nachhaltige Digitalisierung gehört zu den Schwerpunktthemen des BMU für die EU-Ratspräsidentschaft: Erstmalig hat Deutschland eine Diskussion über Digitalisierung und Umwelt auf die Agenda des EU-Umweltministerrats gesetzt. Mit den EU-Umweltministerinnen und –minister will es eine gemeinsame Position erarbeiten.

© Taschenlampentour
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Naturkundemuseum: Humboldt, Techno, Bürgerforschung

Die nächtliche Taschenlampenführung durch die Sammlung des Naturforschers Alexander von Humboldt gehört zu den Highlights des Berliner Naturkundemuseums, sonst ist sie nicht zugänglich. Als Johannes Vogel, zuvor Chefkurator des Natural History Museums in London, 2012 die Leitung übernahm, machte er das Museum mit seinen 30 Millionen Fundstücken zum Debattenraum über Naturzerstörung. Innovativ, kritisch und emotional. „Es gibt heute nichts Politischeres als die Natur“, sagt Vogel und konfrontiert die Besucherinnen und Besucher mit provokanten Ausstellungen, lädt zu kontroversen Expertendiskussionen und Exkursionen mit den Wissenschaftlern des Museums ein. Mal gibt es Mini-Opern im Fischsaal, mal mischen DJs der Berliner Clubszene Elektro-Sounds aus Vogelstimmen und Stadtgeräuschen, mal singt eine Sopranistin kritische Gedichte zur Stadtnatur. Die Bürgerinnen und Bürger schickt Vogel auf Erkundungstour: Mit der App „Naturblick“, entwickelt mit finanzieller Unterstützung des BMU, können sie die biologische Vielfalt ihrer Stadt selbst dokumentieren. Ein Ergebnis: Berlin ist die Nachtigall-Hauptstadt Europas, nirgends sonst leben so viele der braunen Vögel wie hier. Das könnte, vermuten die Wissenschaftler des Museums, an den vielen kleinen unordentlichen Ecken in den Berliner Parks, auf Baustellen und kleinen Brachen liegen. Die Nachtigall liebt sie – als Nistplätze.

Biotope der Vielfalt am Wasserwerk

„Nun“, sagt Andreas Mewes, „am Anfang war die neue Gestaltung unseres Werksgeländes schon gewöhnungsbedürftig.“ Statt eines ordentlich gemähten Rasens, eine wilde Wiese voller heimischer Pflanzenarten. Natternkopf und Graukresse, Sichelmöhre, Vogelwicke und Glockenblumen. „Aber im Frühling standen unsere Wasseraufbereitungsbecken plötzlich in einem blühenden Meer und es gab mehr Schmetterlinge als ich je in meinem Garten auf dem Land gesehen habe.“ Andreas Mewes ist Anlagentechniker bei der Oberflächenwasseraufbreitungsanlage (OWA) in Berlin-Tegel und sorgt dafür, dass der Tegeler See mithilfe neuester Reinigungsverfahren das sauberste Badegewässer der Stadt ist. Mit Petra Kalettka, der Naturschutzbeauftragten der Berliner Wasserbetriebe, führt er über das Firmengelände mit den runden Becken. 7000 Quadratmeter wurden hier mit Unterstützung von Heinz Sielmann-, Bodensee-Stiftung und Global Nature Fund neu gestaltet. „Naturnahe Gestaltung von Firmengeländen“, heißt das Projekt, gefördert im Rahmen des Bundesprogramms Biologische Vielfalt vom Bundesumweltministerum.

„Wir haben etwa 270 Grundstücke in Berlin und wollen auch für die biologische Vielfalt etwas tun“, sagt Kalettka und malt einen Kreis in die Luft: Von der Salbeiwiese links über Krokos- und Grasnelken-Rasen oberhalb der Böschung bis zur Oregano-Insel rechts auf dem Parkplatz hinter dem Verwaltungsgebäude. 25.000 Blumenzwiebeln wurden gesetzt, eine Düne aufgeschüttet, Holzmasten mit Bohrlöchern aufgestellt, in die Wildbienen Eier legen können. Hinter der Düne liegen Rasengittersteine kreuz und quer übereinandergestapelt, hier finden Eidechsen Zuflucht. In den Zwischenräumen alter Betonplatten können Vögel nisten. Braucht es hier überhaupt einen Gärtner? „Oh ja. Er mäht zum Beispiel einmal im Jahr, und nie alles auf einmal, damit die Insekten Futter haben.“ Kalettka zeigt auf eine Pflanze, deren hohen gelben Blüten im Mittagswind wippen. „Und die Robinien hier müssen noch weg, sie kommen aus Nordamerika und verdrängen die heimischen Arten.“ Ein himmelblauer Schmetterling landet auf einem Graukressezweig – ein Bläuling. Den gab es früher hier nicht.

Wenn Brachen zum Spielplatz werden

Alan schwingt sich hoch auf den Mirabellenbaum, Jerome stapft durchs Unterholz zur Brombeerhecke. Der Pfad geht über Stock und Stein, vorbei an Pflaumen- und Walnussbäumen, vorbei an der kleinen Lichtung, auf der sie vergangenen Sommer übernachtet haben in selbstgebauten Höhlen aus Ästen und Laub. Aylin und Joanna verschwinden in einem kniehohen Tunnel neben der Brombeerhecke, der durch das Dickicht führt. „Den haben wir selbst gebaut“, ruft Aylin.

Die „Wilde Welt“ in Berlin Spandau ist einer von fünf Naturerfahrungsräumen (NER) in Berlin, in denen Großstadtkinder wieder ein Gefühl für die Natur bekommen sollen. Drei NER wurden im Rahmen eines Projektes der Stiftung Naturschutz Berlin vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des BMU, von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, dem Bezirk Pankow und dem Landesbeauftragten für Naturschutz und Landschaftspflege gefördert.

In Spandau wurde die alte Brache hinter der Altstadt, einst Gärtnerei und Ponykoppel, 2016 zum NER. Ein Hektar zum freien Klettern und Entdecken, im Matsch graben und auf hohe Hügel rennen. Erzieher Robert Welzel (Bild oben links) ist sein „Kümmerer“, wie es im Projekt heißt. Morgens checkt er, ob Wald und Areal in Ordnung sind: Stehen die Stockhütten sicher, sind keine großen Äste abgebrochen? „Anfangs gab es große Widerstände von Erwachsenen“. Was sollen die Kinder da machen, da gibt es doch nichts, sagten die einen. Zu gefährlich, fürchteten die anderen. „Heute rennen sie uns die Bude ein“. Die Idee stammt aus den 90er Jahren, in Berlin wurde sie nun weiterentwickelt und wissenschaftlich untersucht. Die Studie der Hochschule Eberswalde für Nachhaltige Entwicklung gibt dem Ansatz Recht: In Naturerfahrungsräumen spielen Kinder kreativer, konzentrierter, bewegen sich sicherer, entwickeln ein entspanntes Verhältnis zur Natur und sind ausgeglichener im Alltag. Welzel stimmt zu: „Anfangs hatten manche Kinder Angst vor Wölfen und Drachen. Heute beobachten sie neugierig Wildschweine und Füchse.“