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Generalprobe im Europasaal

16. September, Osnabrück. Generalprobe im Europasaal der Osnabrückhalle. Rasch werden noch Programmhefte und Notizbücher auf den Tischen der Delegierten verteilt, Stühle desinfiziert und die Tontechnik geprüft. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hebt die Stimme. „Ich freue mich, Sie heute zum informellen Bildungsrat begrüßen zu dürfen…“. Der Techniker nickt, Daumen hoch, alles bestens. Anja Karliczek lächelt und tritt hinaus, um die Delegationen aus den 27 EU-Ländern zu empfangen, die heute auf ihre Einladung nach Osnabrück gekommen sind, um über die Zukunft der beruflichen Bildung zu diskutieren. Blau strahlt die Sonne am Morgenhimmel, der rote Teppich ist ausgerollt. Die Wagen der Delegierten fahren vor. Die Bundesbildungsministerin begrüßt die Kollegen und Kolleginnen, wie hier die slowenische Bildungsministerin Simona Kustec. Alle sind sich einig: Gerade jetzt, wo die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie die Unternehmen in ganz Europa unter Druck setzten, ist es wichtig, zu einem persönlichen Austausch zusammenzukommen, um der beruflichen Bildung in ganz Europa einen neuen Schub zu geben.

© BMBF/AA
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Ein ehrgeiziges Ziel

Eine große Tagung ist in COVID-19-Zeiten eine Herausforderung. Damit alles den strengen Corona-Schutz-Maßnahmen entsprechend stattfindet, hat sich das Team vom Bundesbildungsministerium einiges einfallen lassen. Ein Pantomime mit Clownsgesicht weist die Gäste während der Veranstaltung lächelnd auf Abstand hin. Statt eines eng gedrängten Buffets, servieren Kellnerinnen und Kellner das Mittagessen unter schützenden Hauben direkt an den Tischen im Konferenzsaal. Tücher decken Geschirr und Besteck ab, immer wieder werden die Plätze und Dolmetscherkabinen neu desinfiziert. Auch im weitläufigen Pausensaal der Osnabrückhalle sind die Stehtische so auf Abstand gerückt, dass es selbst zu Pausenzeiten fast leer wirkt. Wichtige Themen stehen auf der Agenda: Welche Maßnahmen haben die Mitgliedstaaten der EU ergriffen, um in der COVID-19-Pandemie den Betrieb in den beruflichen und allgemeinbildenden Schulen und in den Hochschulen aufrecht zu erhalten? Was können sie voneinander lernen? Wie kann die berufliche Bildung mit all ihren Facetten der Aus-, Fort- und Weiterbildung in Europa gestärkt werden, um die Länder wettbewerbsfähiger, innovativer und leistungsstärker zu machen? Bundesbildungsministerin Karliczek hat ein ehrgeiziges Ziel: Sie möchte bei dem Treffen neue Grundlagen für eine bessere Berufsbildungszusammenarbeit in Europa erarbeiten. Als „Osnabrücker Erklärung“ sollen sie noch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gemeinsam verabschiedet werden.

Kein zufälliger Tagungsort

Dass der informelle Bildungsrat gerade in Osnabrück stattfindet, einer 160.000-Einwohner-Stadt in Niedersachsen, ist kein Zufall. Die Stadt ist Zentrum einer Region mit starken Ausbildungsbetrieben, Hochschulen, einem breit gefächerten Angebot an innovativen beruflichen Bildungsangeboten. Ein weltweit führender Hersteller von Landmaschinentechnik stellt ein Modell für eine „prozessbezogene duale Ausbildung“ vor, das in Kooperation mit der Berufsschule die Ausbildungsinhalte mit den betrieblichen Neuerungen verzahnt und mithilfe von digitalen Tools die Ausbildung individueller und flexibler für Krisenzeiten macht. Der Betrieb und die Berufsschule setzen dabei auf europaweiten Austausch von Auszubildenden und haben Modelle entwickelt, die die Durchlässigkeit von beruflicher und akademischer Bildung erleichtern.

19 der 100 umsatzstärksten Unternehmen in Niedersachen haben ihren Sitz in der Wirtschaftsregion Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim, sie beschäftigen knapp 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bundesbildungsministerin Karliczek selbst hat in der Region einst eine Ausbildung gemacht, erzählt sie beim Doorstep, dem Eingangsstatement vor dem Start des informellen Rates. Umso mehr weiß sie, dass es sich lohnt, den Blick auf die Region zu lenken, die zu den führenden in beruflicher Bildung in Deutschland gehört.

Im Herzen Osnabrücks, im Herzen Europas

Osnabrück liegt im Herzen Europas, im Schnittpunkt wichtiger europäischer Wirtschaftsachsen. Schon im Mittelalter gehörte die Stadt zum Handelsverbund „Hanse“, wichtige Handelsrouten kreuzten sich hier. Noch heute ist sie ein Logistikzentrum. Die Niederlande im Westen sind nicht weit, im Süden grenzt die Stadt an Nordrhein-Westfalen. Gelegen zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge ist Osnabrück die einzige Stadt in Deutschland, die mitten einem Naturpark liegt, dem UNESCO Global Geopark Terra-vita. Osnabrück ist eine lebendige Universitätsstadt, reich an Kultur und Kunst. Berühmt ist das Felix Nussbaum-Museum, das Werke des führenden Malers der deutschen Sachlichkeit sammelt, der 1904 in Osnabrück geboren und 1944 im deutschen Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde. Das Remarque-Zentrum im Stadtinneren erinnert an einen anderen bekannten Sohn der Stadt: Den Schriftsteller Erich-Maria Remarque, der mit seinen drastischen Anti-Kriegs-Romanen nach dem ersten Weltkrieg Europa aufrüttelte.

Durch die engen Gassen

17.45 Uhr, die Delegationen versammeln sich vor der Osnabrückhalle. Auf geht es zum Ministerspaziergang zum wichtigsten Denkmal der Stadt: Der Friedenshalle im Rathaus, in der vor 350 Jahren der Westfälische Frieden beschlossen wurde. Der Weg führt vorbei an der Universität im alten Stadtschloss gegenüber, durch die engen Gassen der pittoresken Altstadt mit ihren kleinen Cafés und Restaurants, den Stufengiebelhäusern, alten Brunnen und Kirchen.

Ein Familienfoto, wo europäische Geschichte geschrieben wurde

Das Rathaus Osnabrück ist Europäisches Kulturerbe, hier wurde europäische Geschichte geschrieben wie an nur wenigen Orten auf dem Kontinent: Im Friedenssaal – und im Rathaus der nahegelegenen Stadt Münster – schlossen die Fürsten und Könige Europas 1648 den Westfälischen Frieden. Er beendete einen der schrecklichsten Kriege auf dem europäischen Kontinent, den Dreißigjährigen Krieg. Dem Zeitalter der Konfessionskriege wurde damit durch diplomatische Verhandlungen und einen Kompromiss ein Ende gesetzt statt durch militärische Gewalt. Damit legte er erste Grundlagen für die heutige europäische Staatengemeinschaft. Zu Recht gilt Osnabrück daher als eine der Geburtsstätten europäischer Diplomatie. In Osnabrück wurde zudem eine deutschlandweit einmalige Errungenschaft vereinbart: eine abwechselnde Amtsfolge von evangelischen und katholischen Fürstbischöfen, die bis 1803 Bestand hatte und ein friedliches Miteinander der Konfessionen regelte. Vor dem historischen Rathaus machen die Bildungsministerinnen und Bildungsminister ein Familienfoto.

© picture alliance / imageBROKER | Stefan Ziese
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Grundlagen von Demokratie und Frieden

Ihr historisches Erbe hat Osnabrück geprägt. Sie nennt sich „Friedensstadt“ und fördert die Friedensforschung auf vielfältige Weise: Jedes Jahr verleiht die Stadt den Erich-Maria-Remarque Friedenspreis. In der Deutschen Stiftung Friedensforschung im Ledenhof (Bild) werden die politisch-institutionellen Grundlagen von Demokratie und Frieden erforscht, an der Universität gibt es ein Friedensforschungszentrum, am Jean Monnet Centre of Excellence in European Studies arbeiten Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler über Frieden und Zivilgesellschaft aus europäischer Perspektive. Ein friedliches europäisches Miteinander ist in Osnabrück auch Bildungsauftrag: die Stadt hat sieben Europaschulen. 2015 verlieh die Europäische Kommission Osnabrück das Kulturerbe-Siegel „Stätte des Westfälischen Friedens“.

Friedensarbeit jeden Tag

„Osnabrück ist wirklich eine Stadt des Friedens,“ sagt Jens Koopmann und schnappt sich einen Stuhl aus dem Ratssitzungssaal. Der Leiter des Protokollteams des Osnabrücker Rathauses und seine Kollegin Stephanie Seelmeyer haben einen langen Tag hinter sich, jetzt heißt es aufräumen. Wegen Corona hatte der Empfang der europäischen Bildungsministerinnen und -minister aus dem Friedenssaal in den Ratssitzungssaal, der gerade renoviert wurde, verlegt werden müssen. Erst am Vortag wurde die Bestuhlung geliefert, bis nachts saßen Handwerker am letzten Schliff. Seelmeyer und Koopmann rollen Europa- und Stadtfahnen ein und tragen sie in den Seitenflügel des Rathauses zum Städtepartnerschaftstrakt. „Hier wird Friedensarbeit jeden Tag für uns konkret“, fährt Koopmann fort. Er ist nicht nur das Protokoll des Rathauses zuständig, sondern auch für die Städtepartnerschaften. Koopmann: „Und die haben in Osnabrück eine besondere Bedeutung“.

Brücken bauen

Osnabrück gehörte in den 1960er Jahren zu den ersten deutschen Städten, die Partnerschaftsbeziehungen aufnahmen. Zur Eröffnung einer Ausstellung über niederländische Textilien und Glasarbeiten begegneten sich 1961 die Oberbürgermeister Osnabrücks und der nordniederländischen Stadt Haarlem. Sie beschlossen: Wir wollen Brücken bauen zwischen unseren vor wenigen Jahren noch verfeindeten Städten, die Menschen aus Haarlem und Osnabrück sollen sich kennenlernen und wieder annähern. Haarlem wurde die erste Partnerstadt Osnabrücks. Heute hat die Stadt elf Partnerstädte, von Vila Real in Portugal über Twer an der Wolga bis Derby in England. Wie wichtig die Partnerschaften der Stadt sind, zeigt sich an einem Programm, das deutschlandweit einmalig ist: die Städtebotschafterinnen und Städtebotschafter. Seit 1965 kommen junge Menschen zwischen 18 und 30 aus den Partnerstädten nach Osnabrück, um ein Jahr lang als Botschafterinnen und Botschafter für ihre Stadt im Rathaus zu arbeiten. Als Angestellte der Kommune erzählen sie in den Schulen der Stadt von ihrer Heimat, organisieren Begegnungsprojekte oder führen Wirtschaftsbesuche aus der eigenen Stadt durch die Osnabrücker Unternehmen. Im Austausch sendet Osnabrück junge Bürgerinnen und Bürger in einige Partnerstädte aus, zum Beispiel nach Frankreich. „Und alle Botschafterinnen und Botschafter haben ihren eigenen, landestypisch dekorierten Raum, in dem sie arbeiten“, sagt Jens Koopmann und öffnet die Tür nach: Angers.

Intensive Partnerschaften

Zu wohl keiner anderen Partnerstadt gibt es inzwischen so enge Beziehungen wie zum nordwestfranzösischen Angers an der Loire. Es gibt mehr als zehn Schulpartnerschaften, zahlreiche Bürgerfahrten und Kultur- und Sportbegegnungen. Theatergruppen, Musikbands und Chansoniers kommen regelmäßig zur Maiwoche, dem jährlichen Europafest, das Osnabrück jedes Jahr für die Vertreter aller Partnerstädte organisiert. Besonders erfolgreich war die Postkartenaktion zu Weihnachten 2019: Städtebotschafterinnen und Städtebotschafter in Angers und Osnabrück bastelten mit Grundschulkindern Weihnachtskarten und schickten sie an Kinder der Partnerstadt: So feiern wir Weihnachten.

© N9713/Creative Commons
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Eine Hommage an die französische Partnerstadt

Angers-Brücke heißt die alte Brücke am Rande der Altstadt, eine Hommage an die französische Partnerstadt Osnabrücks. Auch die anderen Städte werden auf diese Weise gewürdigt, es gibt eine Haarlem-Brücke, einen Derby-Platz und einen Platz der Städtefreundschaften. Mit Angers und Haarlem hat sich inzwischen eine Dreierpartnerschaft entwickelt. Abwechselnd organisiert das Trio gemeinsame Jugendcamps, Sportevents oder Online-Diskussionen über gemeinsame europäische Projekte. „Während des Lockdowns haben wir uns ausgetauscht: Was braucht ihr?“, erzählt Koopmann. So schickte ein Osnabrücker Hersteller von Berufskleidung Kartons mit Arztkitteln nach Haarlem. Um den Austausch während der Corona-Zeit lebendig zu halten, haben sich die Städtebotschafter und Städtebotschafterinnen etwas Besonderes ausgedacht: Jeden Freitag posten die Partnerstädte reihum auf Facebook ein Rezept aus ihrer Region zum Nachkochen.

Die Zukunft meistern

Auch Oberbürgermeister Wolfgang Griesert engagiert sich dafür, dass der Kontakt in Zeiten der COVID-19-Pandemie lebendig bleibt. Amtskollegen aller Partnerstädte sendete er per Video ein Versprechen: 2021 holen wir unsere europäische Maiwoche nach. Heute war Griesert stolz, die europäischen Bildungsministerinnen und -minister im Rathaus begrüßen zu dürfen. „Wenn Europa zusammenhält, können wir die Zukunft meistern“, sagt er. „Das konnten wir heute zeigen.“ Der Oberbürgermeister zieht die Rathaustür hinter sich zu, dreht den alten Schlüssel im Schloss um und nimmt die Hand von der berühmten Klinke: Friede 1648 steht darauf. Er hat den Grundstein für das moderne Europa gelegt.