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Ihr Nachnamensvetter Franz Kafka hat gesagt: „Prag lässt nicht los.“ Es scheint zu stimmen: Die Goldene Stadt zieht heute viele Touristen an. Wie aber war es vor 1989?

Tomáš Kafka: Das Leben in Prag war grau. Es gab wenig kulturelle Angebote. Wenn wir Gäste aus dem Westen hatten, war das einerseits eine große Freude. Andererseits wurde diese Freude immer auch von der Sorge begleitet, dass unser Besuch schlechte Erfahrungen machen könnte. Viele Taxifahrer und Kellner verlangten schon mal zu viel Geld. Wir zitterten also jedes Mal mit, wie die Reise in den Ostblock wohl ausgehen würde.

Und wie sah Ihr Alltag aus?

Kafka: Der Alltag war ebenfalls herausfordernd. Möglichkeiten öffentlichen Engagements waren nicht vorgesehen, und auch im Beruf ließen die Kommunisten wenig Perspektiven. Deshalb eröffnete das Private einen großen Freiraum. Wir hatten viel Zeit für Familie und Freundschaften. Und weil es fast nichts zu kaufen gab, mussten schöne Dinge, gute Literatur und Musik etwa, selbst hergestellt werden. Dadurch vernetzten sich die Menschen und gestalteten ihre Freizeit gemeinsam. Das war eine schöne Erfahrung.

Dann kam der November 1989. Auf einer Gedenktafel in Prag steht: Wann - wenn nicht jetzt? Wer - wenn nicht wir? Woran erinnern Sie sich?

Kafka: Viele Menschen glauben immer noch, die ganze Revolution habe nur zehn Tage gedauert. Die Wahrheit ist: Sie brauchte einen längeren Anlauf. Alles hatte schon im Januar 1989 begonnen. Zu dieser Zeit glückte es erstmals, junge Menschen zu gewinnen. Sie ließen sich davon überzeugen, dass es sich lohnt, für Überzeugungen und Veränderung auf die Straße zu gehen. Am ersten Tag wurden noch viele Protestanten von den Sicherheitskräften zusammengeschlagen. Das Regime setzte auf Abschreckung. Aber die Menschen hatten keine Angst. Es kamen immer mehr. Das war der erste Durchbruch.

Wie ging der zweite?

Kafka: Der gelang damit, die Trennung zwischen den Dissidenten und den normalen Bürgern aufzuheben. Dafür mussten Brücken gebaut werden. Viele Brückenbauer kamen aus der Kulturszene. Auch ich gehörte dazu. Wir wollten den Dialog ermöglichen, verbanden dabei Meinungen und Argumente. Plötzlich standen die Dissidenten nicht mehr alleine in der Ecke. Auf einmal hatten auch viele Schauspieler und andere Persönlichkeiten des Landes ihre Angst abgelegt und den Mut aufgebracht, Petitionen zu unterzeichnen. Schritt für Schritt entstand wieder eine einheitliche Gesellschaft.

Frau Holinková, damals war in den Straßen Prags und im ganzen Land zu hören: Havel auf die Burg! Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Lydie Holinková: Am 17. November wollte ich zwar nach Prag fahren. Aber ich war erst 17 Jahre alt und meine Eltern hatten mir die Reise aus Angst um mich verboten. Sie wussten, es könnte vielleicht etwas passieren. Wir waren ganz gut informiert, obwohl in der Zeitung nicht viel über diese Entwicklungen stand. Mein Vater hörte deshalb beim Geschirrspülen immer „The Voice of America“ im Radio. Gleich am Montag nach dem 17. November haben wir Gymnasiasten in einer Menschenkette gestreikt. Der Schulstreik dauerte zwei Wochen. Wir wollten ein Zeichen setzen. Schließlich marschierten 500 Jugendliche ins Prager Zentrum auf den Wenzelsplatz. Sogar einige Lehrer begleiteten uns.

Wie wichtig war Václav Havel für die Revolution, Herr Kafka?

Kafka: Aus Sicht der Gesellschaft war er ein Star - aber ein Geheimtipp, denn viele Menschen kannten ihn noch gar nicht. Havel selbst strebte auch nicht danach, das Gesicht solcher Veranstaltungen zu werden. Er war vielmehr besorgt, seine Person könnte den kommunistischen Herrschern einen Vorwand liefern, alle weiteren Aktivitäten zu verbieten. Er ließ sich aus diesem Grund nur selten in der Öffentlichkeit sehen. Und genau deshalb war es ein wichtiges Zeichen, dass Václav Havel an diesem 17. November 1989 auf dem Balkon über dem Wenzelsplatz stand und die Regie führen konnte. Das zeigte: Die Dinge waren unumkehrbar.

Was geschah dann?

Kafka: Es vollzog sich die Samtene Revolution. Vor allem aber vollzog sich eine clevere Revolution. Denn Havel wusste nur zu gut, dass er die Menschen Schritt für Schritt auf den bevorstehenden Prozess vorbereiten musste. Es war wichtig, alle mitzunehmen. Er sah, dass die Geduld die Menschen oftmals viel zu schnell verlässt. Seinen Grundsatz dazu hat er mal so formuliert: Mit kostbaren Dingen wie Freiheit und Revolution müsse man weitsichtig und geduldig umgehen, damit sie nicht diskreditiert werden. Danach hat er gehandelt. Das war sehr klug.

Was verbindet Tschechien und Deutschland? Und was sollten wir noch gemeinsam angehen?

Kafka: Gerade weil wir nie als die Vorbilder einer innigen Nachbarschaft betrachtet wurden, konnten und können wir nur positiv überraschen. Die ganze EU braucht positive Überraschungen. Das ist die große Chance in unseren Beziehungen. Wir sollten mit unseren unkonventionellen Formaten auch die anderen überzeugen. Denn wenn die Dinge zwischen Deutschland und Tschechien funktionieren, dann funktionieren sie überall.

Früher lagen für die Deutschen hinter dem Grenzzaun im wahrsten Sinne des Wortes Böhmische Dörfer. Heute entdecken die Menschen ihr Miteinander. Wie haben Sie das erlebt, Frau Holinková?

Holinková: Die Nachbarschaft hat sich sehr gut entwickelt. Es laufen viele wichtige Projekte auf allen möglichen Ebenen - wirtschaftlich wie kulturell. Bürgerinitiativen und lokale Partner bringen sich engagiert ein. Schulpartnerschaften sind entstanden. Wir freuen uns über die aktive Jugendarbeit, unterstützt durch die beiden Jugendbüros in Regensburg und Pilsen. Sachsen und Bayern sind uns bei der Ausgestaltung unserer Nachbarschaft außerordentlich gute Partner. Das schätzen wir sehr.

Herr Kafka, wenn wir auf Europa schauen. Was ist schon erreicht? Was braucht es noch?

Kafka: In den deutsch-tschechischen Beziehungen leben wir schon die EU im Kleinen. Wir inspirieren uns gegenseitig und bringen uns dabei die notwendige Geduld bei. Václav Havel hat einmal gesagt, dass Deutschland für die Tschechen Schmerz und Inspiration darstellt. Der Schmerz hat sich inzwischen gelegt. Es bleibt die Frage nach der Inspiration - und nach der Geduld. 1989 haben wir aufgehört, uns vor der Zukunft zu fürchten. Wir haben auch aufgehört, uns vor der Vergangenheit zu fürchten. Darin liegt für Europa die große Chance auf einen gelassenen Umgang miteinander.