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Frau Kofler, vor 20 Jahren hat die EU die Grundrechtecharta ins Leben gerufen. Welchen Mehrwert bietet sie EU-Bürgerinnen und -Bürgern konkret?

Bärbel Kofler: Die Grundrechtecharta ist die logische Weiterentwicklung der EU von einem reinen Binnenmarkt hin zu einer politischen Union, die auf gemeinsamen Werten fußt: Bürgerinnen und Bürger haben zum ersten Mal auf europäischer Ebene Grundrechte, auf die sie sich berufen können. Und zwar egal, in welchem EU-Land sie sich befinden.

Auch sind in dem vergleichsweise jungen Menschenrechtsdokument viele Rechte enthalten, die von nationalen Verfassungen gar nicht erfasst sind. So wird zum Beispiel das Recht auf körperliche Unversehrtheit in der Charta auf den Bereich der Biotechnologie und die Frage des Klonens ausgedehnt. Auch das Recht auf Datenschutz und Zielbestimmungen zum Umwelt- und Verbraucherschutz werden erwähnt.

Außerdem umfasst die Charta Rechte, die EU-spezifisch sind. Beispiele hierfür sind das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit sowie Rechte mit Bezug auf EU-Institutionen.

2009 schloss die EU den Vertrag von Lissabon ab, seitdem ist die Grundrechtecharta in der EU auch gesetzlich verankert. Warum ist das so wichtig im Hinblick auf die Menschenrechte?

Kofler: Da die Charta die Grundrechte gesetzlich verankert ist, können sie gerichtlich geltend gemacht werden, nämlich bei nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof. Hierdurch sind die Rechte am effektivsten und nützen den EU-Bürgerinnen und -Bürgern am meisten.

Eine rechtsverbindliche Grundrechtecharta ist auch essenziell, weil immer mehr nationale Gesetze europäisches Recht umsetzen. Ohne sie würde eine ganz zentrale Dimension – die Menschenrechte – bei der Gesetzgebung auf EU-Ebene fehlen.

Die Charta gibt der EU auch einen Rahmen für außenpolitisches Handeln. Mir ist wichtig, dass die Grundwerte in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auch die gebotene Rolle einnehmen.

Unser Lebensraum befindet sich in einem schnellen Wandel, zum Beispiel durch die Digitalisierung und die Klimaerwärmung. Wird die Charta auch in den kommenden 20 Jahren aktuell bleiben? Oder sehen Sie die Notwendigkeit, dass die EU ihre Grundrechtecharta aktualisiert?

Kofler: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat ein starkes Signal gesetzt, dass der Grundrechtsschutz auch bei Zukunftsthemen zentral ist. Denn natürlich muss man angesichts des gesellschaftlichen und technologischen Wandels immer wieder prüfen, ob der Grundrechtsschutz auf nationaler und europäischer Ebene neuen Herausforderungen gerecht wird.

Die Schlussfolgerungen der Präsidentschaft zur Charta, die im Oktober veröffentlicht wurden, haben drei Ziele: die Grundrechte und Werte der EU im Zeitalter der Digitalisierung zu verankern, die digitale Souveränität der EU zu fördern und einen aktiven Beitrag zur globalen Debatte über den Einsatz Künstlicher Intelligenz zu leisten.

Grundsätzlich gilt: Grund- und Menschenrechte sind per Definition universell und unteilbar. Daher sind vor allem zwei Punkte wichtig: Erstens, dass die Rechte, die die Charta garantiert, auch gewahrt werden und zweitens, dass sie die Leben der Menschen in Europa auch tatsächlich verbessern. Leider müssen wir auch bei anderen Mitgliedsstaaten immer wieder und immer mehr dafür werben, dass die Rechte erhalten werden.