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Der gemeinsame europäische Binnenmarkt gehört zu den für den Zusammenhalt der Europäischen Union wichtigsten Kräften. Auf der Grundlage der vier Säulen der Freizügigkeit ermöglicht er den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen zwischen den Mitgliedstaaten. Als einer der weltweit größten Binnenmärkte, auf dem keine Zölle zwischen den Mitgliedstaaten erhoben werden, erleichtert er den Alltag von über 450 Millionen europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den Handel zwischen Unternehmen, darunter etwa 22 Millionen kleine und mittelständische Firmen. Er sorgt für mehr Wachstum, setzt Anreize für Innovationen und schafft Arbeitsplätze.

In einer Welt, in der einzelne europäische Länder Schwierigkeiten haben, im Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften von der Größe eines Kontinents wie den USA oder China zu bestehen, kommt der EU durch den Binnenmarkt außerdem eine größere Bedeutung als Handelspartner zu.

Kohle und Stahl als Ausgangspunkt

Ende März 1957 unterzeichneten die sechs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) angehörenden europäischen Staaten in Rom einen Vertrag, durch den die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Leben gerufen wurde.

Tatsächlich kann die EGKS, die 1952 nach zwei Weltkriegen geschaffen wurde, als der eigentliche Anfang des Binnenmarkts betrachtet werden. Dahinter stand die Idee, dass die deutsche und französische Herstellung von zwei in Kriegszeiten so wichtigen Produkten wie Kohle und Stahl unter der Kontrolle eines einzigen Organs stehen sollte, um Konflikte in Europa in Zukunft zu vermeiden. Sie war von dem pro-europäischen französischen Staatsmann Jean Monnet sorgfältig ausgearbeitet worden und wurde von der französischen Regierung vorgeschlagen. Italien, die Niederlande, Westdeutschland, Belgien und Luxemburg stimmten ihr zu. Diese anfängliche Zusammenarbeit im Bereich Kohle und Stahl ermöglichte dann fünf Jahre später die Gründung der EWG.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs treffen sich im Februar 1957 in Paris, um sich auf den Binnenmarkt zu einigen. Zentrum: Willem Drees, Ministerpräsident der Niederlande und Leiter der niederländischen Delegation. Links: der niederländische Außenminister Joseph Luns © akg-images
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In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich die EWG schließlich zu dem Binnenmarkt, den wir heute kennen. Nach dem jüngsten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU steht er heute 27 EU-Mitgliedstaaten offen. Auf der Grundlage mehrerer anderer Übereinkünfte, darunter das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), haben auch die Schweiz, Island, Liechtenstein und Norwegen einen je unterschiedlichen Zugang zum Binnenmarkt, und auch das Vereinigte Königreich ist während der Übergangsphase im Rahmen des Brexit bis Ende 2020 noch Mitglied.

Weitere Meilensteine:

Gleichzeitig mit dem Vertrag zur Gründung der EWG unterzeichneten die sechs Staaten auch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG oder EURATOM), welche die gemeinsame Förderung des Fortschritts auf dem Gebiet der Kernenergie zur Aufgabe hat. In den EAG- und EURATOM-Verträgen wurden sämtliche Fragen von Zollvorschriften bis hin zur Einrichtung verschiedener Ausschüsse, Räte und Gerichte geregelt. Diese entwickelten sich allmählich zu den unterschiedlichen beschlussfassenden Organen der heutigen EU.

Fusionen und neue Mitglieder

Im Jahr 1965 wurden die EWG, EURATOM und die ursprüngliche EGKS zusammengeführt. Zur EWG kamen neue Mitglieder hinzu – das Vereinigte Königreich, Dänemark und Irland 1973, Griechenland 1981 und Portugal und Spanien 1986.

Dieser Sechsjahresplan war die erste Überarbeitung des aus dem Jahr 1957 stammenden Römischen Vertrags und legte die vier Säulen der Freizügigkeit fest.

Der Vertrag über die Europäische Union, der 1992 in Maastricht in den Niederlanden unterzeichnet wurde. Durch diesen Vertrag wurden die gemeinschaftlichen Bestrebungen auf Bereiche wie Verbraucherschutz, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt sowie Entwicklung ausgedehnt. In seinem Rahmen wurden außerdem eine gemeinsame Geldpolitik eingeführt, neue Institutionen wie die Europäische Zentralbank eingerichtet und ein Zehnjahresplan zur Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, festgelegt.

Der Euro wurde offiziell im Januar 1999 eingeführt und kam drei Jahre später im öffentlichen Zahlungsverkehr zum Einsatz.

Der gemeinsame europäische Markt ist nicht nur eine Triebkraft der europäischen Einheit, er ist auch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte.

Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass das Pro-Kopf-BIP 2015 in der EU um durchschnittlich 1,7 % höher war als es das ohne den Binnenmarkt gewesen wäre. Eine Studie ergab kürzlich, dass die Einkommen der vom Binnenmarkt profitierenden EU-Bürgerinnen und -Bürger pro Person um durchschnittlich etwa 840 Euro im Jahr steigen.

Europäischer Binnenhandel im Wert von 3 Billionen Euro

Dank des Binnenmarkts hat auch die Unternehmenstätigkeit in der Europäischen Union zugenommen. Der Wert des Binnenhandels ist von 800 Milliarden Euro im Jahr 1994 auf über 3 Billionen Euro im Jahr 2015 gestiegen. Ungefähr zwei Drittel des Handels der EU-Mitgliedsstaaten finden innerhalb des Binnenmarkts statt.

Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass durch den Binnenmarkt 3,6 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in der EU geschaffen wurden. Die Personenfreizügigkeit hat dazu geführt, dass heute über 14 Millionen Europäerinnen und Europäer im arbeitsfähigen Alter - oder 3,3 % aller Bürgerinnen und Bürger der EU - in einem anderen EU-Staat als ihrem Herkunftsland leben und arbeiten.

Freier Warenverkehr: Beladen von Containern im Westhafen in Regensburg, Bayern © imageBROKER
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Ein weiterer wichtiger Aspekt des Binnenmarkts ist der Wettbewerb zwischen den Unternehmen auf gesamteuropäischer Ebene. Seine Förderung ermöglicht bessere Qualität, niedrigere Preise und eine größere Auswahl für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie mehr Innovationen. Insbesondere der letzte Punkt führt dazu, dass europäische Firmen auch international wettbewerbsfähiger werden.

Die Erfolge des Binnenmarkts lassen sich auch auf Außenhandelsabkommen zurückführen, welche die EU, die als Binnenmarkt verhandlungsstärker ist, mit anderen Handelsnationen geschlossen hat.

Anpassungs- und Verbesserungsbedarf

Die EU steht zurzeit vor zahlreichen Herausforderungen, darunter vor allem die weltweite COVID-19-Pandemie, der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und die sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen, die ein neues digitales Zeitalter mit sich bringt.

Alte und neue Vorschläge, Verträge und Aktionspläne machen deutlich, dass der europäische Binnenmarkt ständig angepasst und verbessert werden muss. Derzeit arbeiten Politiker und Entscheidungsträger an Strategien zum Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie der Digitalisierung, dem grünen Wandel und der Energiewende; dazu gehören Projekte wie die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt, der Aktionsplan für die Kapitalmarktunion und die Energieunion. Ein besserer Energietransfer in ganz Europa, Regeln für geistiges Eigentum, Finanzdienstleistungen sowie Vergabeverfahren und ‑standardisierung sind alles Schwerpunkte dieser Bemühungen.

Mit Blick auf den digitalen Binnenmarkt müssen Themen wie künstliche Intelligenz, Telekommunikation, die Wirtschaft des Teilens und Start‑ups EU-weit angegangen werden. Auch muss berücksichtigt werden, dass sich durch die Digitalisierung viele andere Industriezweige grundlegend verändern können, seien es die Fertigung, das Bankenwesen, der Einzelhandel oder neue Klimatechnologien. Gleichzeitig sollte eine Überregulierung vermieden werden, da dadurch Innovationen behindert werden können. Für alle Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in der EU müssen Datensicherheit, Datensouveränität und ein gerechter Wettbewerb sichergestellt werden.

Und was im Moment vielleicht am dringlichsten ist: Der europäische Binnenmarkt wird eine enorm wichtige Rolle dabei spielen, allen Mitgliedstaaten beim wirtschaftlichen Wiederaufbau zu helfen. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass der Binnenmarkt voll funktionsfähig ist. Dazu sollen die im Zuge der Krise beschlossenen Einschränkungen der grenzüberschreitenden Mobilität so schnell wie möglich aufgehoben und Mechanismen entwickelt werden, die den Binnenmarkt widerstandsfähiger gegenüber Krisen machen – z. B. sollen Möglichkeiten zur Optimierung der öffentlichen Vergabe einschließlich ihres Rechtsrahmens ausgelotet werden, um in zukünftigen Notlagen schnell reagieren zu können.

Nachdem die europäischen Grenzen im Juni nach der Abriegelung durch die Pandemie wieder geöffnet wurden, versammelten sich französische und deutsche Politiker auf der Brücke der Freundschaft, einer Fußgängerbrücke, die die Saar überquert und beide Länder verbindet, um dieses Ereignis zu feiern. © France-Bleu Lorraine Nord
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Darüber hinaus muss die EU vorsichtiger sein, wenn es um Einflussnahme von außen geht, z. B. indem sie EU-Unternehmen schützt, die wegen der Pandemie zum Ziel von Übernahmen werden könnten, und Marktverzerrungen entgegenwirkt, die von staatlich kontrollierten oder subventionierten Unternehmen aus dem Ausland verursacht werden.

Andere Aspekte des Binnenmarkts, die bereits dazu beitragen, Europa wettbewerbsfähiger und innovativer zu machen – etwa europäische Lieferketten, offene Märkte auf der Grundlage internationaler Regeln, die ausgewogene Entwicklung der EU-Regionen und eine starke Industriebasis –, müssen ebenfalls weiter gefördert werden, damit sich die EU von der Krise erholen kann.