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In einer immer stärker gespaltenen Gesellschaft und in einer Zeit, in der uns Filterblasen im Internet voneinander abschotten, kommt es selten vor, dass wir politisch Andersdenkende treffen und uns mit ihnen austauschen. Das Projekt „Europe talks – Europa spricht“, das von ZEIT ONLINE ins Leben gerufen wurde und inzwischen von 18 Redaktionen aus ganz Europa gemeinsam organisiert wird, verfolgt ein ebenso einfaches wie kühnes Ziel: Personen aus unterschiedlichen europäischen Ländern, deren politische Haltungen gegensätzlich sind, führen virtuell ein Zwiegespräch über Themen, die derzeit in Europa Gegenstand hitziger Diskussionen sind. Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unterstützt.

„Wir wollen Menschen zusammenbringen, die nicht die gleichen politischen Ansichten teilen, um ihnen zu helfen, aus ihren Blasen herauszukommen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und in Europa zu stärken“, erklärt Sebastian Horn, stellvertretender Chefredakteur von ZEIT ONLINE und einer der Mitorganisatoren des Projekts.

Sieben Fragen zu kontrovers diskutierten Themen

Dazu hat ZEIT ONLINE mit europäischen Medienpartnern eine Plattform eingerichtet, über die Personen aller politischen Couleur aus ganz Europa miteinander in Kontakt gebracht werden. Das geht ganz einfach: Wer teilnehmen will, beantwortet sieben Fragen zu aktuell kontrovers diskutierten Themen mit ja oder nein, die auf den Internetseiten der teilnehmenden Redaktionen veröffentlicht worden sind. Zum Beispiel: Sollte die Gesundheit der Menschen immer an erster Stelle stehen, selbst wenn die Wirtschaft darunter leidet? Sollten Masken an allen öffentlichen Orten in Europa obligatorisch sein? Sollten Stadtzentren autofrei sein? Der „Europa spricht“-Algorithmus bringt dann zwei Personen mit entgegengesetzten Ansichten aus verschiedenen Ländern zusammen. Am 13. Dezember um 15 Uhr werden überall in Europa tausende auf diese Weise zusammengesetzte Tandems zeitgleich über den Umgang mit der Pandemie, über Klimaschutz oder Migration debattieren.

Selfie nach einer anregenden Debatte im Rahmen von Europa spricht © Maria Sturm/ZEIT ONLINE
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Die Gespräche werden unter vier Augen, vertraulich und in den meisten Fällen auf Englisch geführt. Über Politik auf Englisch zu diskutieren, mag eine Hürde sein. Aber davon sollte man sich nicht abschrecken lassen. Denn die meisten Teilnehmer sind auch keine Muttersprachler. Die Veranstalter geben jedoch nicht vor, auf welcher Sprache die Diskussionen zu führen sind: Entdecken die Gesprächspartner, dass sie andere Sprachkenntnisse teilen, steht es ihnen frei, so zu kommunizieren, wie sie möchten.

Den Gesprächen der Diskussionspaare geht eine Konferenz mit renommierten Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft voraus, die als Livestream auf den Websites der teilnehmenden Medien übertragen wird.

Den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken

„Europe talks – Europa spricht“ basiert auf einer von ZEIT ONLINE im Mai 2017 ins Leben gerufenen Initiative mit dem Titel „Deutschland spricht“. Dieses Projekt bringt in regelmäßigen Abständen politisch Andersdenkende auf nationaler Ebene zusammen und findet großen Anklang. Bislang haben sich in diesem Rahmen in Deutschland mehr als 60 000 Personen mit den Ansichten ihres Gegenübers auseinandergesetzt. Unter dem Dach der Plattform „My Country Talks“ wird die Idee über die Ländergrenzen hinweg ausgeweitet: Gemeinsam mit Medienhäusern in ganz Europa wurden bereits in dreizehn Ländern Bürgerdialoge organisiert, an denen mehr als 150 000 Personen teilgenommen haben. Im Mai 2019 meldeten sich mehr als 16 000 Europäerinnen und Europäer aus 33 Ländern für das Auftaktprojekt von „Europa spricht – Europe Talks“ an. Über 500 von ihnen trafen sich bei der Auftaktveranstaltung in Brüssel – darunter viele, die eine lange Anreise in Kauf nahmen, um sich persönlich kennenzulernen.

Dieses Jahr werden solche physischen Treffen wegen der COVID-19-Pandemie nicht möglich sein. Doch nach Meinung von Sebastian Horn sind die Bürgerdialoge 2020 wichtiger denn je. „Ziel unseres Projekts ist es auch zu ermöglichen, dass Europäerinnen und Europäer sich untereinander darüber austauschen können, wie sie die Pandemie erlebt haben und erleben“, fügt er hinzu.

Die ersten Auswertungen zeigen, was diese Dialoge bewirken können. Einer von ZEIT ONLINE zitierten Studie zufolge sagten zwei Drittel der Teilnehmenden, dass sie etwas über das Verhalten ihrer Gesprächspartnerin oder ihres Gesprächspartners gelernt hätten. 90 % gaben an, dass sie das Gespräch gut fanden. „Wann immer sich Menschen treffen, um stundenlang zu reden, ohne dass noch jemand anderes zuhört, verändern sie sich. Unsere Gesellschaften verändern sich ebenfalls. Was zählt ist, dass wir es wieder lernen, Diskussionen mit einer uns unbekannten Person unter vier Augen zu führen“, unterstreicht Jochen Wegner, Chefredakteur von ZEIT ONLINE.